Praktische Erfahrungen mit einem Internet ohne Netzneutralität

Den folgenden Text habe ich dem EU-Abgeordneten Jürgen Creutzmann geschrieben, um ihm zu erklären welche Probleme ein Internet ohne Netzneutralität erzeugt. Ich habe dafür auf meine persönliche Erfahrung des letzten halben Jahres zurückgegriffen, in dem ich ungewollt den Rechner meiner Frau komplett blockiert hatte - durch Priorisierung eines kleinen Dienstes, der eigentlich kaum Leistung brauchte.

Sehr geehrter Herr Creutzmann,

Es tut mir Leid, dass ich Sie so spät abends noch störe. Ich hatte versucht, Sie telefonisch zu erreichen, musste aber vorher die Kinder ins Bett bringen - und brauchte einige Zeit, um diese E-Mail zu formulieren.

Ich schreibe ihnen, weil sie morgen an einer Abstimmung zu Netzneutralität teilnehmen und damit darüber entscheiden, wie das Internet hierzulande in Zukunft aussehen wird.

Die Telekommunikationsfirmen erzählen etwas von speziellen Diensten, die sie durch Ausnahmen von der Netzneutralität besonders gut anbieten können. Wie das Internet dann aussehen wird habe ich die letzten Monate ungewollt selbst erlebt:

Ich kann in unserem Heimnetz Dienstepriorisierung einstellen - also genau das, was Provider im gesamten Netz wollen. Ich hatte das genutzt, um sicherzustellen, dass ein bestimmter Dienst immer schnell verfügbar ist. Der Dienst hat nicht viel Bandbreite gebraucht, war aber priorisiert.

Die letzten Monate hat mir meine Frau immer wieder gesagt, dass ihr Rechner nicht mehr über WLAN ins Netz kommt, und unser Skype hatte völlig zerhackten Ton - was so weit ging, dass wir Skype nur noch für das Bild nutzten und nebenher telefonierten. Ich habe lange Zeit keinen Grund dafür gefunden.

Gerade letzte Woche habe ich mich dann daran erinnert, dass das alles angefangen hat, nachdem ich mit der Priorisierung experimentiert hatte. Ich war nie auf den Gedanken gekommen, das zu testen, denn was sollte WLAN mit Priorisierung des Netzes zu tun haben? Aber trotzdem habe ich versuchsweise auch den Rechner meiner Frau als priorisiert gesetzt. Und das WLAN funktionierte wieder. Als nächstes habe ich Skype auf priorisiert gesetzt, und es funktionierte wieder.

Das ganze passierte mit einem kleinen Dienst, der wenig Leistung braucht. Es war keine Filmplattform und keine Telefonie, sondern eine sehr einfache Anwendung, für die selbst die Geschwindigkeit eines 10 Jahre alten Modems genügen würde.

Alleine diese kleine Anwendung auf meinem Rechner in unserem Heimnetz zu priorisieren hat am Rechner meiner Frau das gesamte Internet unbrauchbar gemacht und dafür gesorgt, dass auch auf meinem Rechner Skype nicht mehr nutzbar war. Da diese Priorisierung nur bei uns in der Wohnung stattfand, konnte ich das noch ändern, nachdem ich erstmal den Grund gefunden hatte.

Hätte unser Provider diese Priorisierung gemacht, dann würde es unsere Rechner auf ähnliche Art blockieren, wenn auch nur einer unserer Nachbarn einen priorisierten Dienst kaufen würde, denn wir hängen am gleichen Verteiler. Sobald also einer unserer Nachbarn priorisierte Dienste nutzen würde, wären wir gezwungen, auch für priorisierte Behandlung zu bezahlen, nur um die Qualität zu erhalten, die wir vorher hatten.

Und das ist leider keine Theorie, sondern die Erfahrung, die wir in unserer Wohnung mit real genutzten Priorisierungsmethoden gemacht haben. Die Wirkung spezieller Dienste entspricht leider nicht der Überholspur auf der Autobahn, sondern der Komplettsperrung einer Spur für alle, die nicht extra zahlen. Und damit hängen wir plötzlich alle hinter LKWs fest, weil die zweite Spur für Google-Seiten reserviert ist.

Daher möchte ich Sie bitten, für wirkliche Netzneutralität ohne Ausnahmen zu stimmen.

Danke, dass sie bis hierher gelesen haben - und danke, dass sie uns deutsche Bürger in Brüssel vertreten!


[Ich weiß nicht, ob ich die Antwort hier schreiben darf, daher lasse ich sie weg]


Sie konnten meine Bedenken mit ihren Ausführungen leider nicht zerstreuen, da ich nicht von “gewissen Internetseiten” spreche (und die in dieser Wortwahl mitschwingende Implikation, meine Sorgen seien Ergebnis von Gutgläubigkeit gegenüber Leuten im Netz, sehr unhöflich finde), sondern von der realen technischen Implementierung und von persönlichen Erfahrungen mit den Nebeneffekten von Priorisierung.

Zu ihren Anmerkungen:

Wer definiert, was „spürbar“ ist? Ich habe über ein halbes Jahr lang in den Programmen, die ich nutzte, keine Effekte bemerkt, dafür war das Internet für meine Frau fast vollständig unbenutzbar. Und wir wohnen im gleichen Haus - wie soll sichergestellt werden, dass das Internet auch für alle Grenzfälle weiterhin nutzbar bleibt?

Wie wird „Kapazität“ definiert? In unserem Fall war mehr als ein zehnfaches der reservierten Bandbreite verfügbar, aber die Priorisierung erhöhte die Latenz (Verzögerung) aller anderen Pakete - was zum Zusammenbruch der Internetverbindung meiner Frau führte. Und da Latenz im Internet immer nach dem best-effort-Prinzip läuft (alle Pakete werden so schnell weitergeleitet, wie es möglich ist), und die heutigen Latenzzeiten bei Webseiten von gut 300ms um Faktor 10 über der Schwelle liegen, ab der Menschen sie nicht mehr wahrnehmen würden (10-30ms), kann es per Definition keine „ausreichende“ Kapazität geben - zumindest nicht dann, wenn sie über Latenz berechnet wird.

Und wer definiert, was das „restliche“ Internet ist? Sind das nur die Dienste, die bisher verfügbar sind - in der Qualität, die wir heute haben? Sobald spezielle Dienste eine reservierte Spur erhalten, gibt es Finanzinteressen, die eine Ausweitung der speziellen Dienste nutzen können, um Wettbewerber zu behindern.

Und wie finden die Provider heraus, ob ein bestimmtes Datenpaket zu einem speziellen Dienst gehört? Wie ist das mit dem Telekommunikations- und Fernmeldegeheimnis vereinbar? Im Internet werden nicht komplette Päckchen mit Verpackung verschickt, sondern das Äquivalent der einzelnen Blätter eines Briefes - bei gesicherter Verbindung in verschlüsselter Form, die eine Zuordnung unmöglich macht, solange die Vertraulichkeit der Kommunikation gewahrt bleiben soll.

Alles in allem greift jegliche Begrenzung des Prinzips der Netzneutralität in ein Rattennest unklarer, komplexer und sich schnell ändernder Anforderungen, in das sich unsere Rechtsprechung nicht verstricken sollte.


[Ich weiß nicht, ob ich die Antwort hier schreiben darf, daher lasse ich sie weg]


Ihre Aussage zu nicht existierenden Kapazitätsproblemen stimmt leider nicht. Während das Netz ausreichend Bandbreite für fast alle Dienste liefert, ist seine Latenz für viele Dienste selbst heute kaum ausreichend.

  • Bandbreite: Die Menge an Daten pro Sekunde.
  • Latenz: Die Verzögerung. Oft gemessen in Round-Trip-Time: Die Zeit, bis eine Antwort eintrifft.

Wie ich bereits sagte, war in dem Beispiel, das ich selbst in unserem Netz erlebt habe, die Latenz das Problem. Und dieses Problem wird es im Internet genauso geben. Nur, dass dann mein Nachbar mich blockiert, und mein einziger Ausweg ist, selbst auch für Priorisierung zu bezahlen.

Wenn Provider sich auf die Ports und Protokolle verlassen, können dabei Nutzer die Priorisierung sehr einfach missbrauchen. Um einen Server zu schreiben, der auf einem Port meine Wahl läuft, brauche ich weniger Zeit, als um diese E-Mail an Sie zu formulieren. Und das gleiche gilt für Protokolle. Der einzige Weg, Priorisierung sicher zu realisieren ist daher deep-packet-inspection, die Ihrer Aussage nach illegal ist.

Dienste, die nur Bandbreite brauchen, benötigen dabei sowieso keine Priorisierung. Denn wie sie bereits schrieben: Bandbreite gibt es genug.

Eine 100% Funktionalität eines kritischen Dienstes ist allerdings auch durch Priorisierung nicht gewährleistet: Es müssen nur genug Leute mit Herzschrittmacher da sein, um den Dienst zusammenbrechen zu lassen. Jeder Dienst, der schnelle Reaktionszeiten braucht, ist auf niedrige Latenz angewiesen - also genau auf das Merkmal, bei dem es im Netz schon heute Kapazitätsprobleme gibt (ganz abgesen davon, dass medizinisches Gerät, das von einer funktionierenden Internetverbindung abhängig ist, eine idiotische Idee ist: Ein Denial-of-Service-Angriff kann dann plötzlich nicht mehr nur Ärger verursachen und Geld kosten, sondern zur gezielten Tötung genutzt werden).

Und gerade so ein Dienst beeinträchtigt andere Dienste, dürfte also ihren Worten nach sowieso nicht angeboten werden.

Wenn es also nur Dienste gibt, die entweder keine Priorisierung brauchen, oder keine Priorisierung erhalten dürfen, weil sie andere Dienste beeinträchtigen würden, welchen Grund gibt es dann, Netzneutralität aufzuheben und aus einer einfachen Regelung ein Bürokratiemonster zu machen, dessen neue Möglichkeiten ohne Rechtsbruch (durch deep-packet-inspection) nicht gewährleistet werden können?


[Ich habe keine weitere Antwort von Herrn Jürgen Creutzmann erhalten]


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