Der Grundschulverband verstrickt sich in Widersprüche und die Datenlage ist grausig. Auf dieser untragbaren Grundlage wollen sie radikale Änderungen im Schrifterwerb durchdrücken.
Aktualisierung (2016): Die wissenschaftliche Unterstützung der Grundschrift scheint äußerst zweifelhaft [1]. In dem verlinkten Artikel wird der wissenschaftliche Hintergrund der Grundschrift kritisiert: Nach der im Artikel aufgearbeiteten Datenlage könnte die Grundschrift der Schreibentwicklung signifikant schaden. Auf meine Nachfrage1 hin konnte der Autor des Papiers, das der Artikel kritisiert, meine Zweifel daran nicht ausräumen, sondern hat sie deutlich verstärkt. Kinder werden hier zu Versuchskaninchen von Leuten, die nicht bereit sind, die notwendigen robusten Daten zu Vor- und Nachteilen der vorgeschlagenen Umbrüche im Schreiblernen zu erheben. Und das, nachdem die gleichen Leute mit der Einführung der vereinfachten Ausgangsschrift schon einmal etwas Vergleichbares gemacht haben, das sich selbst in ihrer eigenen Auswertung nicht als sinnvoll herausgestellt hat.
→ Kommentar zu dem Artikel Keine pädagogischen Interessen [2] aus der Taz [3].
Nach etwas setzen lassen: Gedanken zur Grundschrift [4]. → Schreibschrift aus Grundschrift entwickeln klingt möglich, aber es wird meiner Meinung nach allzuviel außenrum aufgeblasen, während die Frage fehlt, wie die Schrift am Ende schön wird.2
Ich habe seit der 3. Klasse eine grausige Handschrift, seit ein Lehrer mir schlechte Noten gegeben hat, obwohl ich so sauber wie möglich geschrieben habe: Meine Schrift war ihm zu breit, alles andere war ihm egal. Ich habe das nie ganz verwunden, und heute sieht meine Normalschrift so aus:
(weitere Infos zu der Schriftprobe [6])
Meine Briefe an meine Freundin sahen allerdings ganz anders aus: Für sie habe ich alles reaktiviert, was ich in der Grundschule gelernt hatte, um wirklich schön zu schreiben, und sie haben ihr gefallen.
Ich habe sie später (nachdem wir geheiratet haben) gefragt „hättest du es lieber, wenn ich in meiner Normalschrift schreiben würde“, und sie hat mir gesagt, dass sie viel lieber Briefe liest, die ich für sie wirklich schön geschrieben habe.
Diese Möglichkeit wollen die Schulbuchverlage den heutigen Kindern vorenthalten - aus welchen Gründen auch immer.
Schreiben ist die zentrale Zivilisationsfähigkeit. Aus ihm ergeben sich alle weiteren Errungenschaften der Wissenschaft und des Rechtsstaates, denn ohne Schreiben zu können, lässt sich nichts festhalten und auch nichts an wirklich viele Leute weitergeben. Den heutigen Kindern die Fähigkeit vorzuenthalten, Texte so zu schreiben, dass sie wirklich schön sind, halte ich für einen Diebstahl an den Errungenschaften unserer Zivilisation.
Ich halte es zwar auch heute noch für sinnlos, wenn Leute bei Mitschrieben in der Schule in Höheren Klassen auf Schönschrift achten statt auf Geschwindigkeit, schließlich schreiben sie nur für sich selbst.
Ich halte es aber für wichtig, dass sie in der Lage sind, wirklich schön zu schreiben, wenn sie es wollen. Daher ist es meiner Meinung nach schädlich für Schulkinder, ihnen die Schreibschrift nicht beizubringen. Vor allem, wenn einer der Gründe ist, dass dann Schulbücher angeblich billiger zu drucken sind (heutige Drucker können auch Bilder drucken und jeder Einzelne kann von zu Hause aus an seinem Privatrechner ein Druckreifes PDF mit Bildern erstellen3, das dann via Internet billig in den Druck gegeben werden kann).
(sonst heißt es doch immer „für die armen Kinder“ - wird halt nur dann genutzt, wenn es den Kindern eigentlich nicht hilft. Sonst würde es ja heißen „für glückliche Kinder“)
PS: Für manche Leute ist die Druckschrift besser geeignet als die Schreibschrift (zumindest fällt sie ihnen später leichter). Ich verstehe nicht, warum Lehrer in dem Fall nicht einfach auf die einzelnen Schüler eingehen sollen und warum stattdessen das ganze System umgebrochen werden sollte - und damit dann den Kindern geschadet wird, für die die Schreibschrift besser funktioniert.
Um beide Seiten zu hören, habe ich Prof. Brügelmann angeschrieben und wir haben einige längere E-Mails ausgetauscht. Ich hatte erwartet, dass er gute Antworten auf meine Fragen hat und damit meine Zweifel ausräumen kann. Die hatte er allerdings nicht. Stattdessen ist er v.a. auf kleinen handwerklichen Schnitzern des Artikels herumgeritten — obwohl die Arbeitsweise von Herrn Götz Taubert deutlich sauberer war als die von Prof. Brügelmann selbst. ↩
Es kann sein, dass ich hier etwas zu heftig reagiere. Die Schrift ist ähnlich Grundlegend wie die Sprache, und auch da sind bei jeder noch so kleinen Änderung starke Reaktionen zu beobachten - beispielsweise bei Esperanto als Zweitsprache. Ich merke auf jeden Fall, dass ich emotional reagiere und eben nicht völlig rational. Wer noch andere Meinungen dazu lesen will, sollte die Kommentare zu dem Taz-Artikel [7] lesen. Der Grundschulverband hat übrigens geantwortet [8]: „Erprobung, kein durchdrücken“, „individuelle Unterstützung“ (was muss dafür weichen und warum haben wir das bei Schreibschrift nicht?) und „Pflege der Handschrift als beständige Aufgabe in der gesamten (Grund-)Schulzeit“ (verdammt, hätte ich das gehasst) (leider in M$-Word geschrieben - Stück für Stück sollten alle progressiven Gruppen zu freier Software übergehen - mindestens zu LibreOffice [9] u.ä., die für Normalnutzung kein Stück hinter ihren unfreien Gegenstücken zurückstehen). ↩
Links:
[1] http://www.grundschrift.info/bruegelmann3.htm
[2] http://www.taz.de/1/zukunft/bildung/artikel/1/keine-paedagogischen-interessen/
[3] http://taz.de
[4] https://www.draketo.de/node/437/#comment-472
[5] https://www.draketo.de/files/2008-06-17-brief-an-den-envoyer-ews-belegexemplare-fuer-graphologies.de-klein.png
[6] http://draketo.de/deutsch/ich/licht/schriftdeutung-2008-06-17
[7] http://www.taz.de/1/zukunft/bildung/artikel/kommentarseite/1/keine-paedagogischen-interessen/kommentare/1/1/
[8] http://www.grundschulverband.de/fileadmin/bilder/projekte/Grundschrift/Stellungnahme_GSV.pdf
[9] http://de.libreoffice.org/
[10] http://www.scribus.net